Sadie Plant, Biel/Bienne, April 2020 Übersetzt von Meret Kaufmann
In Man-tiq ut-tayr (Die Konferenz der Vögel), einem Gedicht, welches im 12. Jahrhundert vom Persischen Sufi Farid ud-Din Attar verfasst wurde, versammeln sich die Vögel der Welt, um ihrem Wunsch nach einem Führer nachzugehen. Die Wiedehöpfin will ihnen den Weg weisen. “Wir haben einen wahren König,” verkündet sie. “Sein Name ist Simurgh und er ist der König der Vögel. Er ist nah bei uns, doch sind wir weit von ihm entfernt.” Die Vögel sehnen sich danach, diesen König zu finden. Doch als ihnen während der Rede der Wiedehöpfin dämmert, wie lang und anstrengend die Reise sein würde, verblasst die Entschlossenheit vieler. Die Bachstelze, der Papagei, das Rebhuhn, der Falke, die Wachtel, die Nachtigall, der Pfau, der Fasan, die Turteltaube, die Stadttaube, der Habicht, der Distelfink: sie alle finden Gründe, sich nicht auf die Suche zu machen. “Die Reise zum Simurgh übersteigt meine Kräfte,” so die Nachtigall. Der Pfau hat kein Bedürfnis, sein irdisches Paradies zu verlassen. Die Ente will sich vom Wasser nicht lossagen. “Mir reicht die Leidenschaft für’s Meer,” meint der Reiher. “Meine Kräfte reichen zur Suche des Simurghs nicht aus, darum entschuldigt mich bitte.”
Den meisten Lesern der heutigen Zeit wird Attars Gedicht nur im übertragenen Sinne als eine Erzählung von Vögeln erscheinen: Für Sufis ist die Sprache der Vögel die Sprache mystischer Erfahrungen, dessen, was sich sonst nicht in Worte fassen lässt. Für Attar sind Vögel folglich reine Projektionsflächen für menschliche Archetypen und Begehren.
Oder mag dies etwa tatsächlich die Art von Angelegenheit sein, die Vögel besprechen, wenn sie im Morgengrauen singen und sich abends versammeln? Reden sie wirklich nur über Essen und Sex, Territorium und Verteidigung, wie die Ornithologen meinen? Wie viele dieser prosaischen Erklärungen sind eigentlich Projektionen unseres eigenen Lebens? Schau, sagen wir, auch sie verbreiten Samen und Krankheiten rund um die Welt, beanspruchen Raum und kämpfen darum. So wie wir, lernen und erinnern sie, rufen aus und rufen wach die Jahreszeiten und navigieren durch landschaftliche Gegebenheiten und uns bekannte Sternenmuster. Doch sind wir uns da so gewiss? Ist dies alles? Worum mag es ihnen noch gehen? Können wir uns bloss im Ansatz vorstellen, wie sie leben, was sie wahrnehmen, mit welchen Sinnen sie walten, in welchen Frequenzen sie senden, wie sie Geheimnisse teilen, wenn sie denn solche haben? Beschwören sie den Pflanzensaft emporzusteigen, singen sie Blumen zum Blühen herbei, reizen sie Beeren zum Reifen und zapfen dabei all jene Kanäle an, die ausserhalb unserer Wahrnehmung liegen? Verbreiten sie Neuigkeiten, Nachrichten und Gerüchte über Dinge, die unseren Horizont gänzlich übersteigen?
Können wir ihnen jemals erzählen, was wir meinen gelernt zu haben? Würden sie überhaupt wissen wollen, was wir alles studiert und recherchiert haben? Wissen sie, wie nah wir ihnen sind, sie aufspüren, umkreisen, verfolgen, stets darum bemüht, ihr Treiben zu erfassen, sie zu beherrschen? Was hielten sie wohl von der Art und Weise, wie wir ihre Eigenschaften einordnen: nach Formen der Federn, Farben von Gefiedern, Grössen der Schnäbel, Dimensionen von Eiern, überwundenen Distanzen, Dinosauriervorfahren, Balzritualen, Nestbauverhalten, Fressgewohnheiten, Migrationsrouten, von all jenen Fragen, die wir so gerne stellen: “Welche Zahl? Wie viel Prozent?” In Der Kongress der Pinguine, einem Schweizer Film, der wie Attars Konferenz der Vögel wie ein langes Gedicht anmutet und von Franz Hohler und dem Regisseur Hans-Ulrich Schlumpf 1993 komponiert wurde, sind dies die Fragen der Menschen, auf die weitere Gedanken folgen: “Welche Fragen würden Pinguine stellen? Vielleicht diese: Welche Farbe haben die Gedanken? Welche Zahl drückt den Schmerz aus? Kennt ihr eigentlich unsere Träume?”
Und was geht eigentlich in den Staren vor, wenn sie in der Abenddämmerung ihre Räder durch die Luft schlagen, in grossen Scharen und mit einer Mühelosigkeit und Eleganz ohnegleichen: Handelt es sich dabei um Scharentänze, Vorführungen, ein Zurschaustellen oder Zelebrieren unbekannter Riten oder um etwas gänzlich Undenkbares? Künstler- und DichterInnen wissen darauf noch weniger zu antworten denn WissenschaftlerInnen. Doch wissen erstere eher, was zu fragen ist: “Waren wir der Traum der Pinguine?”
Trotz aller Zweifel und Ängste überzeugt Attars Wiedehöpfin letztlich tausende von Vögeln dazu, sich mit ihr auf Reise zu begeben, um den Simurgh zu finden. Der Weg erweist sich als weit und tückisch, die meisten Reisenden überleben nicht: “Von tausenden Vögeln erreichten letztendlich nur dreissig das Ziel. Und selbst jene waren verwirrt, müde und entmutigt, es fehlten ihnen Federn und Flügel. War die Reise völlig vergebens gewesen? Was hatten sie erreicht? Wo waren sie gelandet? An keinem Ort, sondern vielmehr im Bewusstsein: si-murgh bedeutet “dreissig Vögel” auf Persisch; was sie finden ist eine Reflexion ihrer Selbst. “Im Anblick des Simurghs erkannten sie, dass es wahrhaftig der Simurgh war, der da stand, und als sie ihren Blick auf sich selbst wandten, sahen sie, dass sie selbst der Simurgh waren.” Zusammen waren sie das, wonach sie suchten.
Und nun: es ist Frühling 2020. Haben sie bemerkt, wie viel sich verändert hat? Wundern sich die Vögel nun, warum die Himmel so klar sind, warum ihre plötzlich die einzigen interkontinentalen Flüge sind? Fragen sie sich, weshalb es auf der Welt ruhiger geworden ist, warum so viele Menschen aus dem Bild verschwunden sind, warum sich die gewöhnlichen Migrationsmuster, Fressgewohnheiten und so viele weitere Rituale der Leute gewandelt haben, nun, da die Tage länger werden, und der pinke Mond am Himmel glüht, und die Vögel schlemmen können wie seit Jahren nicht mehr? Sind sie besorgt? Sind sie neugierig? Oder erfreuen sie sich schlichtweg daran, die Himmel ganz für sich zu haben, die Störche und Segler und Schwalben, die für einmal in den Norden reisen können ohne die Flugzeuge, die den Luftraum durchwühlen und lange Dreckspuren nach sich ziehen? Und sich für einmal mit so wenig Hintergrundlärm zu hören, die Spatzen, Sänger und Meisen, die Amseln und Finken, die Elstern und Krähen, die Enten und Möwen fernab vom Meer gleich all den Menschen, die nach Hause geflogen sind und nun bei offenen Fenstern ihren Stimmen in der Luft horchen können, wie sie in der Nachbarschaft widerhallen, murmelnd und schnatternd, genau wie die Vögel.
Dieser Text ist mit einem Datum versehen, ebenso dieser Moment: er wird vorbeigehen, und diese sonderbare Zeit wird schon bald wieder weit weg erscheinen. Ist die Pandemie bereits in Vergessenheit geraten? Sind ihre Folgen stets spürbar? Haben sie die Welt verändert? Ist der Dienst wie gewohnt wieder aufgenommen worden? Ist die Luft stets frisch, das Wasser klar, der Himmel so tief wie dieses Jahr? Wie dieser Frühling sich entfaltet, während er sich noch entfaltet, er ist etwas Besonderes: die seltene Sicht auf eine Zäsur in der Zeit, ein Raum zum Atmen, nicht nur für Vögel.
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