Chameleon Eyes

Geflügelte Weltenbummler

Dr. med. vet. Martina Schybli Schweizerische Vogelwarte Sempach, 2020

Warum Vögel ziehen

Jahr für Jahr wiederholt sich mit dem Vogelzug ein unvergleichliches Naturphänomen. Milliarden Vögel verlassen im Herbst ihre Brutgebiete und ziehen in entfernt gelegene Winterquartiere, um schliesslich im Frühling den weiten Weg wieder in umgekehrter Richtung vorzunehmen. Bedingt ist diese Massenwanderung nicht etwa durch die während des Winters vorherrschende Kälte, sondern vielmehr durch Nahrungsknappheit. Insekten und andere wirbellose Tiere stehen in dieser Zeit nämlich kaum zur Verfügung, und Bodenfrost sowie Schnee erschweren die Suche nach anderen Nahrungsquellen wie beispielsweise Sämereien. Je nach Vogelart sind nebst dem Nahrungsmangel zudem noch weitere Aspekte wie zugefrorene Gewässer oder für die Nahrungssuche zu kurze Helligkeitsphasen für den Vogelzug verantwortlich.

Verschiedene Zugstrategien

Der Wechsel zwischen Brut- und Winterquartier ist folglich für viele Vögel eine Strategie zum Überleben. Dabei haben sich verschiedene Zugstrategien etabliert. Sogenannte Kurzstreckenzieher überwintern in Europa oder im nordafrikanischen Mittelmeerraum und fliegen dabei nur vergleichsweise „geringe“ Strecken bis etwa 2000 km. Zu ihnen zählen viele Wasservögel, aber auch etliche einheimische Singvogelarten. Langstreckenzieher dagegen überwinden normalerweise Distanzen von über 4000 km und überqueren dabei die Sahara. Viele Insektenfresser wie beispielsweise Mauer- und Alpensegler, Rauchschwalben oder Neuntöter gehören zu den Langstreckenziehern. Da sie aufgrund der Insektenverfügbarkeit in ihrer Nahrungsgrundlage eingeschränkter sind als die Kurzstreckenzieher, ziehen sie nicht nur früher weg, sondern kehren auch später zurück.

Anzumerken ist, dass nicht alle Vogelarten ziehen. Manche Arten verbleiben ganzjährig im Brutgebiet, sie nennt man Standvögel. Standvögel sind hinsichtlich ihres Nahrungsspektrums im Winter weniger stark eingeschränkt als reine Insektenfresser, und haben andere Strategien entwickelt, wie sie mit den veränderten Umweltbedingungen im Winter besser zurechtkommen. Zu den Standvögeln gehören beispielsweise die meisten europäischen Hühner-, Specht- sowie Eulenarten.

Ein „Spezialfall“ sind die sogenannten Teilzieher. Wie es der Name schon vermuten lässt, zieht ein Teil der Population weg in ein Winterquartier, während der andere Teil ganzjährig im Brutgebiet verbleibt. Viele im städtischen Umfeld lebende Vögel zählen zu den Teilziehern, bekannte Vertreter unter ihnen sind Amsel, Rotkehlchen und Buchfink. Die meisten anderen Vögel im Siedlungsraum sind Kurzstreckenzieher oder Standvögel.

Beim Kunstwerk Chameleon Eyes im Heiligfeldpark werden tagsüber wohl vor allem Vögel des Siedlungsraums wie Krähen, Meisen und Finken in den Fokus der Wärmebildkamera geraten, zudem die beiden typischen Siedlungsvögel Mauer- und Alpensegler, die aber Langstreckenzieher sind. Doch wer weiss: Vor allem im Frühling und im Herbst sind nachts zahlreiche weitere Vogelarten unterwegs. Leider können die Vögel mit der Wärmebildkamera nicht auf Artniveau bestimmt werden, aber es wird spannend sein, zu sehen, wie gross das Ausmass dieser gewaltigen Tierwanderung direkt über unseren Köpfen ist, ohne dass wir davon etwas mitbekommen.

Wann und wie Vögel ziehen

Einige Vogelarten, darunter die Greifvögel, ziehen tagsüber. Die Mehrheit der Zugvögel zieht jedoch nachts. Der Stand der Sonne, des Mondes sowie der Sterne, aber auch das Erdmagnetfeld geben ziehenden Vögeln die ungefähre Richtung des Zugs vor. Landschaftsstrukturen, also Hügel- und Gebirgskämme, Gewässer sowie Küsten, dienen schliesslich der genaueren Orientierung. Bei vielen Vogelarten ist die Zugroute genetisch verankert; Jungvögel, welche sich das erste Mal auf dem Zug befinden, finden den Weg folglich alleine. Es gibt jedoch auch Vogelarten, bei welchen die Altvögel die Jungen mit auf die erste Reise nehmen und ihnen den Weg zeigen. Bekannt ist dies beispielsweise bei Gänsen.

Der Zug ist für die Vögel eine anstrengende Zeit und verlangt Höchstleistungen. Die Zugvögel müssen sich daher vor dem Abflug Fettreserven anfressen und auch während dem Zug rasten können. Intakte, störungsfreie Lebensräume, welche den Vögeln unterwegs Nahrung, Schutz und Erholung bieten, sind folglich äusserst wichtig. Auf ihrer Reise sind die Vögel ferner bestrebt, nicht unnötig Energie zu verbrauchen. Manche Arten, darunter Kraniche und Gänse, fliegen in Formationen, wodurch sie den Luftwiderstand minimieren können.

Grosse Greifvögel und Störche indessen nutzen Aufwinde, die sogenannte Thermik, um gleitend weite Strecken zurückzulegen. Müssen sie das Meer überqueren, so wählen sie eine Route, bei welcher sie möglichst geringe Distanzen über das Wasser fliegen müssen, da hier keine Thermik herrscht. Das Meer bietet zudem keine Rastmöglichkeiten. Aus diesem Grund versuchen auch kleinere Vögel, welche nicht mit der Thermik segeln können, sondern flatternd fliegen müssen, den Flug über das Wasser kurz zu halten. Die meisten europäischen Zugvögel ziehen dabei über die Meeresenge bei Gibraltar oder über den Bosporus, und ein eher geringer Teil über Italien, Korsika und Malta. Naturereignisse in Form von Stürmen, langanhaltenden Regenperioden oder Dürren, aber auch menschgemachte Gefahren wie beispielsweise die im Mittelmeerraum noch sehr verbreitete Jagd auf Vögel machen den Zug oftmals zu einem riskanten Unterfangen.

Vogelzug und Klimawandel

Der Vogelzug ist vor allem eine Anpassung an das weltweit saisonal unterschiedliche Nahrungsangebot. Dieses Nahrungsangebot verändert sich durch den Klimawandel zurzeit rapide. Erhebungen zeigen bereits, dass auch die Vögel ihre Zugstrategien so weit wie möglich den durch den Klimawandel veränderten Bedingungen anzupassen versuchen.

Viele nordische Wasservögel, die früher von Nordeuropa und Sibirien zum Überwintern in die Schweiz geflogen sind, finden an den mittlerweile eisfreien Gewässern im Norden auch im Winter genügend Nahrung und kommen deshalb in der kalten Jahreszeit immer weniger in die Schweiz. Dazu gehört beispielsweise die Reiherente.

In den immer wärmeren und schneeärmeren Wintern gibt es für die Kurzstreckenzieher nun auch in Mitteleuropa genug zu fressen. Sie fliegen nicht mehr so weit und ziehen deshalb später weg und kommen früher zurück oder haben den Zug teilweise sogar ganz aufgegeben. Ein typisches Beispiel ist der Rotmilan.

Vom Klimawandel besonders negativ betroffen sind die Langstreckenzieher, die im tropischen Afrika überwintern. Sie verbringen jeweils nur einen relativ kurzen Teil des Jahres in einem Gebiet und sind darauf angewiesen, dass die Bedingungen dann am jeweiligen Ort optimal sind. Neben Zerstörung von Feuchtgebieten und Abholzung stellt auch der Klimawandel die Langstreckenzieher vor grosse Probleme: Unregelmässigere Regenfälle und Dürren in Afrika führen dazu, dass die Nahrung nicht mehr so regelmässig verfügbar ist wie früher. In der Schweiz erleiden denn auch viele Langstreckenzieher Bestandsrückgänge, während sich Standvögel und Kurzstreckenzieher gut behaupten können.

Vogelzugforschung in Sempach

Der Vogelzug ist ein spannendes Forschungsgebiet der Ornithologie, welches noch viele offene Fragen bereithält. So sind beispielsweise die konkreten Winterquartiere oder auch die Rolle der Umweltbedingungen im Hinblick auf den Abflugzeitpunkt oft unbekannt. Solchen Fragen geht die Schweizerische Vogelwarte nach. In den letzten Jahren gewann dabei insbesondere die Forschung mit sogenannten Geolokatoren an Bedeutung. Geolokatoren sind kleine, sehr leichte Messgeräte, welche den Vögeln ähnlich einem Rucksack angezogen werden. Die Sensoren messen Luftdruck, Beschleunigung, Temperatur, Erdmagnetfeld und Lichtintensität. Dadurch lassen sich Rückschlüsse auf die Winterquartiere, die Flughöhe sowie das Verhalten der Vögel während dem Zug und im Winterquartier ziehen. So fand die Vogelwarte unter anderem heraus, dass Nachtigallen aus dem Raum Basel mehrheitlich in der Elfenbeinküste und Ghana überwintern. Im Falle von mit Geodatenloggern ausgerüsteten Bienenfressern aus Ostdeutschland zeigte sich, dass sie nach Angola ziehen, wobei sie in stabilen sozialen Gruppen unterwegs sind.

Interessante Ansätze bieten auch Radarsysteme, darunter Wetterradars. Radarsysteme erfassen die ziehenden Vögel als Biomasse im Luftraum und ermöglichen es, den Vogelzug grossflächig zu visualisieren. Dadurch erhofft man sich Vorhersagen zum zeitlichen und räumlichen Ablauf des Vogelzugs, aber auch, generelle Muster im Verhalten der Zugvögel zu finden.Weitere Informationen

https://www.vogelwarte.ch/de/projekte/vogelzug/ https://www.vogelwarte.ch/de/voegel/vogelzug-info/ https://www.vogelwarte.ch/de/voegel/beobachten/rueckkehr-der-zugvoegel https://www.vogelwarte.ch/de/voegel/beobachten/herbstzug

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