Chameleon Eyes

Über planetarische Experimente

Orit Halpern, 2020 Beauftragt von Marie-France Rafael Übersetzt von Meret Kaufmann

Als Historikerin der Kybernetik und Computerwissenschaften wurde ich angefragt einen Text zu Thomas Juliers Projekt Chameleon Eyes beizutragen. Ich begreife die Installation als Befragung der Art und Weisen, wie maschinelles Sehen (Thermografie) und Kommunikationstechnologien unsere Beziehungen zu anderen Lebensformen – wie etwa dem Vogelzug - wahrnehmbar machen. Meine Antwort besteht aus einer Reihe von Fragen, die ich im Hinblick darauf stellen will, wie das Kunstwerk unser Verständnis von „Natur“ und unsere Beschäftigung mit Technologie untersucht. Dazu situiere ich die Arbeit im Rahmen gross angelegter wissenschaftlicher Experimente zur Abbildung des Planeten, um zu fragen, inwiefern technische und kybernetische Mittel unser Verständnis der Erde hervorbringen und indessen unsere Beziehungen zu anderen Lebewesen mitgestalten. Diese Fragen erachte ich sowohl für Juliers Werk selbst als auch für das breitere Feld technologischer Kunstpraktiken als relevant.

In seiner Einführung zur Arbeit schlägt Julier vor, dass Chameleon Eyes eine neue oder „fiktionale“ Form von Intelligenz suggeriert. Diese Behauptung impliziert, dass Intelligenz auf neue Weisen jenseits und ausserhalb individueller Körper und durch den vernetzten Austausch zwischen unterschiedlichen Formen von Leben und Technologie hervorgebracht werden kann. Um solche Ideen historisch zu situieren und des Weiteren die Arten von Ästhetik zu untersuchen, die darin mitschwingen, will ich mich kurz einem viel grösseren, erweiterten wissenschaftlichen Sinnesexperiment zuwenden – dem Event Horizon Telescope (EHT, deutsch Ereignishorizontteleskop). Das EHT ist bemerkenswert, da es den gesamten Planeten in eine Datenerfassungsmaschine verwandelt und indessen fundamental neue Ideen über Objektivität, das Sehen und künstliche Intelligenzen hervorbringt. Diese Ideen werfen ein Licht zurück auf das weitaus bescheidenere Unternehmen von Julier und seinen ornithologischen KollaborateurInnen, eine kybernetische Begegnung mit den Bewegungen von Tieren und Maschinen in der von uns bewohnten Atmosphäre zu gestalten.

EREIGNISHORIZONTE

„Ein Punkt ohne Wiederkehr”[1] „Eine Grenzfläche, jenseits derer Ereignisse nicht sichtbar für Beobachter sind, die sich diesseits der Grenzfläche befinden…”[2]

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Erstes Bild eines schwarzen Lochs, 10. April, 2019, https://www.jpl.nasa.gov/edu/news/2019/4/19/how-scientists-captured-the-first-image-of-a-black-hole/ (Download 19. Juli, 2019)

Am 10. April 2019 erschien der Menschheit dieses erste Bild eines Schwarzen Lochs. Dieses Wunders bedurfte, dass ein Team von WissenschaftlerInnen und IngenieurInnen aus aller Welt die Erde selbst in einen riesigen Sensor verwandelte, der Daten von Schwarzen Löchern sammelt: das Event Horizon Telescope (EHT, deutsch: Ereignishorizontteleskop). Nur eine Schüssel in der Grösse dieses Planeten konnte einen Sensor kreieren, der sensibel genug ist, schwache elektromagnetische Signale aus über fünfzig Millionen Lichtjahren Entfernung zu erfassen und damit zu guter Letzt empirisches Beweismaterial für Einsteins allgemeine Relativitätstheorie zu liefern.

Als das Bild veröffentlicht wurde, zirkulierte es mit buchstäblicher Lichtgeschwindigkeit durch jenes menschlichste und sozialste aller Netzwerke – das Internet. Online-Kommentare reichten von Staunen bis zu grosser Frustration darüber, dass das Schwarze Loch tatsächlich genau so aussah, wie wir es uns vorgestellt hatten. „Wahnsinn”, „Unglaublich”, „Mystisch” und „Zum Verlieben” rangelten mit „Antiklimaktisch”, „Echt jetzt?” und „Sieht aus wie das Auge Saurons aus Herr der Ringe”. Vielleicht, suggerieren diese KommentatorInnen, ist die Krönung der Verwandlung unseres gesamten Planeten in eine Technologie bloss ein gefälschtes Artefakt von Computergrafik-Algorithmen; bloss ein weiteres stereotypes Bild, welches althergebrachte Westliche kulturelle Tropen von ausserirdischen und mächtigen Kräften hervorruft?[3] Durch die Kombination von mystisch-ästhetischen Vorstellungen des Weltalls und göttlicher Macht, mit dem Traum von Objektivität und perfektem Sehen durch Technologie, beschwört das Bild eine doppelte Temporalität herauf. Das Ereignisbild kristallisiert zugleich neue Vorstellungswelten von planetarischen (sogar postplanetarischen) Dimensionen, die zukünftig durch Daten und Maschinenerfassung integriert würden, und mobilisiert unsere archaischsten, abermalig wiederholten Konventionen des Erscheinungsbilds extremer, nicht menschlicher Andersartigkeit, um uns zum Erbe der Mythen und G-tter zu retournieren.

Was auch immer die ‘Wahrheit’ dieses Bildes ist, ich behaupte, dass dieses Bild des Schwarzen Lochs der Beweis einer radikalen Neuformulierung von Wahrnehmung ist. Das Bild stellt zugleich die Figur der endlichen Grenzen menschlicher Wahrnehmung dar und verkörpert eine neue Form der Erfahrung, welche nicht aus einer menschlichen oder gar technischen Installation allein hervorgeht, sondern aus dem buchstäblichen (Ver-)Netzwerken des gesamten Planeten in ein sensorisches Wahrnehmungsinstrument und -experiment. Dieses Bild ist folglich eine Allegorie der künstlichen Intelligenz und maschinellen Lernsysteme, die es untermauern. Es verkörpert in einem Zuge zwei klassische Probleme der Physik und Komputation – nämlich die Unmöglichkeit von Objektivität und die Grenzen im Berechnen von und Zugreifen auf Unendlichkeit.

OBJEKTIVITÄT

Diese Probleme ziehen eine Geschichte in den Wissenschaften mit sich. Wie bereits von so manchen WissenschaftlerInnen belegt, kam das Konzept mechanischer Objektivität erstmals im 19. Jahrhundert mit der Fotografie und dem Film auf. Es wurde begleitet von der Einsicht über die Fehlbarkeit des menschlichen Körpers, die Unmöglichkeit menschlicher Objektivität, was wiederum das Begehren nach einer perfekten, vielleicht himmlischen Objektivität gebar, die an das Erbe des Renaissance-Perspektivismus anknüpfte. Diese g-ttähnliche Objektivität sollte die Welt nun nicht mehr durch die Zelebrierung des Menschen, sondern durch Prothese und mechanische Reproduzierbarkeit erreichen.[4] Der Ereignishorizont lässt eine Rückkehr zum liberalen Subjekt hinter sich und bietet ein neues Model: von Objektivität nicht als Gewissheit, sondern als dem Umgang mit Ungewissheit; als die Produktion gänzlich neuer Zonen, durch welche Rechensysteme weiter vordringen und die Grenzen von Wissenschaft und Kapital ausgedehnt werden können. Im Falle des Ereignishorizonts bringt die Grenze zwei radikal verschiedene Formen von Mathematik und Theorie in Einklang und verknüpft sie miteinander – allgemeine Relativität und Quantenmechanik. Es stellt sich die Frage des Massstabs – die Erdanziehungskraft zeichnet sich auf grosser Skala nicht auf dieselbe Art und Weise ab wie auf einer subatomaren oder Nano-Skala. Durch solche Experimente erhofft man sich eine Vereinheitlichung dieser zwei unterschiedlichen Massstäbe zu erzielen. In diesem Sinne sind Ereignishorizontexperimente logistisch in ihrer Logik, da sie versuchen das extrem Lokale und Spezifische mit dem sehr Grossen und Generischen zu vereinen und synkopieren.

Dabei stellt sich die Frage nach dem Zufall und worin für WissenschaftlerInnen ein Beweis und Objektivität bestehen. Zwar wurden Schwarze Löcher vorausgesagt, doch glaubte nicht mal Einstein seiner eigenen Prognose, da er sich dagegen sperrte, eine solch radikale Mutation von Zeit und Raum zu akzeptieren. Einstein, so scheint es, war stets auf die Wahrheit aus. Die Idee eines Raumes, jenseits dessen seine eigenen Gesetze nicht mehr gälten, war undenkbar. Der Ereignishorizont ist jedoch nicht das Reich der Gewissheit, sondern eher der Wahrscheinlichkeiten und Ungewissheiten. Physiker können gewisse Zustandsräume definieren oder darüber spekulieren, doch können sie nie die genaue Bewegung eines Partikels oder Elements erfassen. Ausserdem ist der Ereignishorizont das Reich von Geschichten. Schwarze Löcher bergen vermutlich Schlüssel – einen „Rückwärts-Film”, wie es der Physiker und Wissenschaftshistoriker Peter Galison nennt – zur gesamten Geschichte des Alls. In einem Schwarzen Loch lässt sich Zeit umdrehen und der unscharfe Blick auf die enormen Energien, welche sich um den Ereignishorizont scharen, legt mögliche Bahnen der Vergangenheit nahe, doch niemals eine einzige allein. [5]

Als Antwort auf diese Situation unvollkommener Visualisierungen und radikaler Unbestimmtheit von Massstab und Zeit ruft man nun zur Erhöhung von Rechnerleistungen und Vermehrung von Schüsseln im All auf, um die Auflösung dieses massiven Instruments zu steigern. Das ist die Logik von „kommunikativer Objektivität“: die Hinwendung zu Automatisierung und Big Data, um mit extremer Ungewissheit umzugehen. Dabei sind die Grenzen des Wissens unerlässlich für technischen Fortschritt.[6] Der Apparat des EHT selbst belegt die Integration der Massstäbe der Erde und jenen der Sterne, um neue Ökonomien und Formen von Wissen hervorzubringen.

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Hochgelegene Submillimeter Radioteleskopanlage, ALMA Observatorium, Chajnantor Plateau, Atacama, Chile, 13. März 2017 Foto: Orit Halpern

ERHABENHEIT

Eine der zentralen Einrichtungen in diesem Projekt des Ereignishorizontteleskops war die Installation des Atacama Large Millimeter/Submillimeter Array (ALMA).

Am 13. März 2017 besuchte ich die Installation dieses Radioteleskops. In der Nähe des Chajnantor Plateaus in der Atacama Wüste in Chile gelegen, befinden sich die Teleskope auf 5050 Metern Höhe, in einer der trockensten und extremsten Gegenden der Welt.[7]

Die gesamte Installation scheint zur Provokation radikaler Ehrfurcht entworfen zu sein; Ehrfurcht vor ihrem Ausmass, vor der menschlichen Unscheinbarkeit und vor der Möglichkeit technischer Herrschaft über und vermutlich auch durch das unermessliche Panorama der Wüste und darüber hinaus, jenem der Sterne. Die Schleppfahrzeuge, welche die Vermessungsmaschinen ziehen, sind riesig, speziell zu diesem Zweck von Raumfahrtbehörden gefertigt. Doch selbst diese Maschinen – jede einzelne massgeschneidert und auf doppelstöckigen Rädern – scheinen winzig im Kontrast zum Rest des Plateaus.

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Alma, Abschleppfahrzeug, 13. März 2017 Foto: Orit Halpern

In meiner Vorstellung reflektierte und beförderte die hochgelegene Installation jede Fantasie ausserirdischer Entdeckungsreisen, wie ich sie als Kind in Science Fiction- und Fantasy-Büchern gelesen und im NASA-gesponserten öffentlichen Programm im Fernsehen gesehen hatte. Diese Analogie ist keine reine Fiktion. NASA und andere Raumfahrtbehörden benutzen diese Wüste um Equipment zu testen, Astronauten zu trainieren und die mögliche Astrobiologie der Planeten zu studieren, die wir zukünftig kolonisieren werden.[8] Ist der Ereignishorizont der Punkt ohne Wiederkehr, so ist die Atacama Wüste die Landschaft dieses Horizonts, die Infrastruktur unserer Vorstellungen die Erde zu verlassen und nie wieder in die Vergangenheit zurückzukehren. Doch kommt da erneut die Ironie mit ins Spiel, denn ALMA sammelt Geschichte. Jedes Signal, welches hier verarbeitet wird, ist Äonen alt, Millionen wenn nicht Milliarden von Lichtjahren in Raumzeit.

Diese technische Infrastruktur, kombiniert mit einer der trockensten Gegenden auf Erden, ruft in Betrachtenden kuriose ästhetische Effekte hervor. Eine solche Unendlichkeit, als Geschenk unserer Maschinen verpackt, mag man „sublim“, erhaben, nennen. Was eine solche Emotion zu einem Zeitpunkt in der Geschichte hervorruft, mag es zu einem anderen allerdings nicht tun. Das Erhabene ist eine Serie emotionaler Konstellationen, denen durch eine Reihe historisch unterschiedlicher sozialer und technologischer Verschränkungen Leben verliehen wird. Meine Emotionen extremer Ehrfurcht und Begierde im Anblick dieser Infrastrukturen, ein Gefühl von Ohnmacht gegenüber und Verlust des Verhältnisses zwischen Figur und Boden, ein Abstieg in die Landschaft hinein, erinnert an die Arbeit des Historikers David Nye über ein „technological sublime“, das technologisch Erhabene. Für Nordamerikaner, so Nye, bot das späte 19. Jahrhundert eine neue industrielle Landschaft, die unsägliche Ehrfurcht und Konzepte von Schönheit durch Strukturen wie Verlängerungsbrücken hervorbrachte.

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Brooklyn Bridge, 1900

Strukturen wie die Brooklyn Bridge wurden extra über den breitesten Teil des Flusses gebaut, um die technische Fertigkeit ihrer Baumeister unter Beweis zu stellen. Andere Konstruktionen – Hochhäuser, Dämme, Kanäle etc. – waren allesamt Teil dieser neuen „Natur“, die damals entstand. Es waren Stätten, die eine Ohnmacht zwischen Figur und Boden hervorriefen und gesellschaftliche Verständnisse dessen, was „Natur“ und „Kultur“, Objekt und Subjekt begründete, neu mischten. Das Erhabene ist letztendlich der Schwund des Selbst in die Landschaft hinein.[9] Dieser spezifische Verlust des Selbst diente jedoch einer politischen Ökonomie, im Rahmen des damals aufkommenden industriellen Kapitalismus. Schönheit hatte schon immer eine Moral und in diesem Falle sollte das, was schön war, der Konsum von „Natur“ für Kapital, auch das sein, was wertgeschätzt wurde.

Nach dem 2. Weltkrieg verschob sich dieser ästhetische Zustand auf subtile Weise; er wurde zunehmends durch Fernsehen und weitere Kommunikationsapparate vermittelt, um technische Übertragung zum Schauplatz sowohl von Begehren und ästhetischer Produktion wie von Wertschöpfung zu machen. ALMA überführt diese Informationslage in ein neues Extrem. Hier produziert Technologie eine neue Landschaft, die Infrastruktur in eine Stätte von Erhabenheit verwandelt; die Grenzen zwischen dem Technischen und „Natürlichen“ werden verwischt und unsere Wahrnehmung auf eine postplanetarische Ästhetik gelenkt, die zugleich Massstab (die Erde ist klein) und Zeit transformiert.

Der Diskurs um ALMA suggeriert, dass alle Planeten, inklusive des unseren, und sämtliche ihrer dazugehörigen Landschaften Aufnahmeinstrumente sind, welche Zeitlichkeiten (v)ermessen, die weit ausserhalb und jenseits menschlicher Erfahrung liegen.[10]

MASCHINELLES SEHEN

Um die ältesten Signale zu verarbeiten, sind die neuesten maschinellen Lernmethoden sowie weitere analytische Techniken notwendig. Diese Datensätze werden in Partnerschaft mit Microsoft und ähnlichen Organisationen als Trainingsets benutzt, da sie eine ausserordentliche Komplexität aufweisen und Herausforderung im Erarbeiten von rauschfreien Signalen darstellen. Die Datensätze dienen zudem als Testplatz, um Algorithmen und neue Ansätze für überwachtes, insbesondere unüberwachtes Lernen zu erproben.[11] Das Bild des Schwarzen Lochs wurde durch einen riesigen Integrationsaufwand erstellt; gleich den wissenschaftlichen Bildern, die durch andere Fernerkundungsgeräte wie etwa die Mars Rovers produziert worden sind. Diese Rovers machen koordinierte Aufnahmen, deren Daten in einem langen Prozess zusammengeführt werden und Bedeutung verliehen wird; ein Prozess, der die Arbeit weniger von Individuen denn von Gruppen darstellt. [12] Dasselbe gilt für das EHT.

Um das Ereignishorizontbild zu produzieren, benutzen BildwissenschaftlerInnen Interferometrie; in diesem Prozess werden Radiowellen, die von mehreren Teleskopen erfasst werden, in eine einzige Beschreibung korreliert. Der Trick liegt darin, sich wiederholende Muster zu finden, die zwischen den Stätten des EHT korreliert werden können; und darin, den hohen Anteil von Bildrauschen in den Daten zu entfernen, um dieses einzigartige „Bild“ dessen hervorzubringen, was die National Science Foundation (NSF) als „Unsichtbares“ betitelte. Da Schwarze Löcher auf der Skala des Weltalls sehr klein sind und zu einem Grossteil andere Daten verschiedener Phänomene des Alls ebenfalls Eingang in die Aufnahmeschüsseln finden, haben nur Maschinen die Kapazität, die Menge an Signalen zu analysieren und relevante von zusätzlichen Daten zu trennen. Signale werden von einer Vielzahl von Observatorien überall auf der Welt erfasst; in der Folge werden jene Signale, die zur Beschreibung der von der Relativitätstheorie vorausgesagten Ereignishorizonte passen, korreliert. Um diese Signale zu finden, müssen die Daten „gesäubert“ werden. Diese „Säuberung“ stellt einen kritischen Teil im Findungsprozess der zu korrelierenden Signale dar.

Dieser Prozess erstreckt sich über viele verschiedene Orte. Ich besuchte die Daten-Reinigungskräfte für ALMA in der European Space Observatory Base in Santiago, wo wir über den Prozess sprachen. Viele der Teams arbeiteten mit unterschiedlichen maschinellen Lernansätzen zur Nutzung unüberwachter Lernmethoden, durch welche Artefakte in den Daten erkannt und entfernt werden können. Der Prozess gestaltet sich verständlicherweise schwierig, da noch niemand weder einen Ereignishorizont gesehen hatte noch wusste, nach welchen Informationen genau gesucht wird.[13] Ohne jemals ein Schwarzes Loch gesehen zu haben und jemals dazu fähig zu sein, wonach sollen wir Ausschau halten? Unsere Maschinen helfen uns bei der Entscheidung.

Und trotzdem besteht die Menschheit auf ihrer eigenen freien Handlungsmacht. Ungeachtet der infrastrukturellen Kapazitäten wurde das endgültige Bild einer jungen Frau zugeschrieben, Katie Bouman, einer forschenden Postdoktorandin am Harvard-Smithsonian Zentrum für Astrophysik. Bouman hatte anscheinend den Algorithmus entwickelt, der es erlaubte, die enormen Mengen an Daten, die von den vielzähligen Installationen des EHT gesammelt wurden, zu vergleichen und zu einem einzigen Bild zu verbinden. Tatsächlich war Bouman selbst keine Astronomin oder Astrophysikerin, sondern eine Computerwissenschaftlerin, die an maschinellem Lernen als einem eher grundsätzlichen Problem arbeitete.[14]

Diese Zuschreibung verweist auf unsere eigenen menschlichen Schwierigkeiten mit den neuen Mediennetzwerken, in welchen wir gefangen sind. Es ist nicht etwa so, dass der von Bouman entwickelte Algorithmus nicht wichtig gewesen wäre, doch dass offensichtlich erst ein Grossteil der Arbeit zahlreicher Leute in die Erstellung des Datenerfassungs-Experiments und die Entwicklung von Methoden zur „Datensäuberung“ geflossen war. Bouman erschien als das fortschrittliche Bildnis, welches die Inkohärenz eines massiven Systems in die Identitätspolitik menschlicher Geschichte zu übersetzen vermochte. Der neue Diskurs legt indessen nahe, dass wir uns selbst, wie Einstein, noch nicht wohl fühlten mit dem Horizont unserer eigenen Kontrolle und Bestimmung über unsere Netzwerke. Diese Spannung zwischen radikaler Ungewissheit und menschlicher Wahrnehmung sowie unser Bedürfnis, zeitliche Bestimmung über Daten zu erhalten, ist ein zentraler Bestandteil dessen, was das Wachstum künstlicher Intelligenz und die scheinbar zusammenhängenden Diskurse von Herrschaft über Zukünftigkeit antreibt.

In ALMA ist Objektivität tatsächlich eine Unmöglichkeit. Die Verarbeitung von Daten zog eine wortwörtliche Umdrehung des Verhältnisses zwischen Figur und Boden mit sich. Der offizielle Besucherführer erzählt mir, dass die ALMA-Teleskope am Fusse Stückelungen von der Temperatur des Weltraums enthalten, um Signale aus dem All zu isolieren und zu verarbeiten und sie vom „Lärm“ der irdischen Atmosphäre zu trennen. Indem das Signal in ihre „originale“ Temperatur zurückgeführt wird, können die entsprechenden Wellenlängen des Signals isoliert werden. In dieser Installation werden Daten buchstäblich in einem Umfeld kontextualisiert, welches innerhalb des experimentellen Set-ups gebaut wird. Das Alleräusserste zur Erde wird innerhalb der Maschinen rekonstruiert. Doch vielleicht ist dies die Lektion eines jeden wissenschaftlichen Experiments … wir schaffen ein von vornherein künstliches Umfeld und machen „Natur“ daraus.[15] Wie die Experimente von VerhaltenswissenschaftlerInnen und KybernetikerInnen, die neue Welten schaffen, um unseren Planeten zu beschreiben, bauen die ALMA-Teleskope den Weltraum innerhalb des unseren nach, um das Unsichtbare sichtbar zu machen, um Äonen galaktischer Zeit im Raum wissenschaftlicher Praxis zusammenzustückeln. Die Grenzen zwischen Orten der Datenproduktion, -sammlung und -verwertung verschwimmen zunehmend. Der Planet ist ein Mittel zur Aufzeichnung von Inschriften geworden.[16] 

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First image of a black hole, April 10, 2019, https://www.jpl.nasa.gov/edu/news/2019/4/19/how-scientists-captured-the-first-image-of-a-black-hole/ (downloaded July 19, 2019)

Doch Zeit und Daten können auf vielfältige Weisen manipuliert werden. Zurück auf Erden gibt es einen Film, der 2010 veröffentlicht wurde, Waiting for the Light von Patricio Guzmán. Unmittelbar nach dem Coup am 11. September 1973 erfolgte das Foltern und Verschwinden von Tausenden sowie das Exil von fast zehn Prozent der Bevölkerung; das Paramilitär suchte Chile heim. In einem Puma Helikopter von Gefangenenlager zu Gefangenenlager reisend, vollzog die sogenannte „Todeskaravane” die Hinrichtung von sechsundzwanzig Völkern in Chiles Süden und einundsiebzig in der Wüste im Norden des Landes. Die Leichen wurden in unmarkierten Gräbern vergraben oder aus den Höhen des Himmels in die Wüste hinuntergeworfen. Die Wüste wurde militarisiert und in eine Waffe zur Tötung Andersdenkender sowie zum Training der paramilitärischen Truppen verwandelt; ihre Ressourcen unterstützten diesen Militärstaat. Guzmán zieht eine Parallele zwischen der Suche nach Leichen durch Mütter von RegimekritikerInnen, die von Pinochet ermordet wurden, und AstronomInnen, die die Sterne von Atacamas' hochliegenden Observatorien aus beobachten und aufzeichnen (die Millimeterwellen-Felder waren zu dem Zeitpunkt noch nicht in Betrieb). Sein roter Faden ist, dass die Landschaft als Aufzeichnungsgerät für menschliche und unmenschliche Erinnerungen agiert, für die Spur von Sternen in über fünfzig Millionen Jahre Entfernung und die Suche nach Geliebten innerhalb menschlicher Leben. Die Schlussfolgerungen des Films sind, dass die Wüste selbst eine Art alternative Intelligenz oder vielleicht ein Gedächtnis nicht nur für Menschen darstellt. Guzmán bietet uns eine gefährliche Affäre mit den Möglichkeiten, die uns nicht menschliche Intelligenzen eröffnen, um unsere menschlichen Erinnerungsapparate zu erweitern, womöglich zu ersetzen. Seine Geschichte verwebt die Erzählungen von Kybernetik, Astronomie und Ökonomie, die sowohl blanken Horror wie beflügelnde Fantasie bei einer Begegnung mit radikalen Formen von Andersartigkeit bieten.

Damit kehre ich zur Frage nicht-menschlicher Intelligenzen und Gedächtnisapparate zurück. Ich wundere mich über diesen gegenwärtigen Zustand, in dem wir uns befinden, und dessen Verbindung zu künstlichen Intelligenzen, die Erfahrung grundsätzlich als aussermenschliche oder -persönliche Beziehungen positioniert haben vielleicht gar ausserhalb irdischer Erfahrungen. Wir haben unseren ganzen Planeten in ein Gerät verwandelt, um den tiefsten und kältesten Weltraum auszutasten; die erste Wette im womöglich grössten Wagnis, das wir als Spezies eingehen. Falls Optimierung der „Ereignishorizont“ erdgebundener Ökologien ist, die Grenze der geschichtlichen Vorstellungskraft von Wirtschaft, da die Idee stetiger Optimierung die Vorstellung erschwert keine Rohstoffe mehr zu haben oder katastrophische Ereignisse zu erleiden, dann erscheint der Ereignishorizont just als Bild, um die Endlichkeit der Welt zu ersetzen.

In einem pessimistisch-optimistischen Sinne, mag dies allerdings auch die letzte Möglichkeit sein, um eben jene unserer Fantasien von modernem Imperialismus und Anthropozentrismus auszulöschen? Es gibt Hoffnung in jenen winzig kleinen spezifischen Signalen, die in einem Äonen alten Schwarzen Loch ausserhalb menschlicher, womöglich gar irdischer Zeit gefunden wurden. Die Erinnerung daran, dass es Erfahrungen gibt, die nur durch globale Netzwerke von sensorischen und vermessenden Instrumentationen entstehen können; dass es radikale Möglichkeiten zur Erkenntnis gibt, dass Lernen und Erfahren vermutlich nicht in einem Subjekt zu lokalisieren, sondern geteilte Angelegenheiten sind. Vermutlich sind dies bloss Erkenntnisse dessen, was wir immer schon wussten: dass unsere Welten aus den Beziehungen zu anderen bestehen. Es ist möglich, dass dies noch nie so klar und sichtbar gemacht worden ist wie durch unsere neuen Technologien, einschliesslich jener der Finanzwelt und künstlicher Intelligenz. Während sie uns automatisieren und traumatisieren, offenbaren sie uns vielleicht auch das, was immer schon da war – die soziotechnischen Netzwerke, die sowohl über uns hinaus als auch ausserhalb unserer selbst bestehen. Diese Realitäten lassen sich unmöglich vollständig visualisieren; doch lassen sie sich spüren.

Die neuen Zusammenschlüsse von Maschinen, Menschen, physischer Kraft und Stoffen erlauben eine reflexive Kritik und schaffen neue Welten. Wir wissen nicht was das EHT noch ans Licht bringen wird, doch wissen wir – gerade jetzt, da wir uns in einer globalen Pandemie befinden –, dass nur unsere Datensätze und Simulationen den Weg weisen werden.

Vielleicht zum ersten Mal in unserer Geschichte als Spezies werden uns regelmässig verschiedene Zukunftsszenarien geboten, als Schaubilder von verschiedenen Datensätzen und globalen Überwachungssystemen. Wir befinden uns in einem riesigen und fortlaufenden Testszenario, das sich in all den Untersuchungen, die wir gegen Krankheiten durchführen, widerspiegelt. Es wird mit verschiedenen Formen von Führung und Kontrolle experimentiert sowie mit unterschiedlichen Verständnissen von Daten und welche Vorstellungswelten diese mit sich bringen. Der planetarische Test ist allerdings kein kontrolliertes Experiment; man weiss nicht, was alles auf dem Spiel steht und ob es terminal ausgehen könnte.

KünstlerInnen müssen sich ebenfalls mit dieser geschichtlichen Lage auseinandersetzen. Was für Wissensformen propagiert die Kunst? Welche Ideen, die unseren ethischen Umgang mit anderen Lebensformen betreffen, werden aktiviert oder verschlossen durch Medienkunst? Mimen KünstlerInnen bloss die Wissenschaften oder bieten sie ein anderes Model im Umgang mit Daten und damit der Zukunft des Lebens? Ergänzen sich die beiden auf neue Weise in einem Zeitalter von zunehmender Komplexität und Zweifel?

Wir leben in einer Zeit, in welcher Komplexität und Datenüberschuss Tatsachen sind. Wir glauben bereits, dass wir unsere Maschinen und Netzwerke durchschauen und dass Intelligenz aus Netzwerken hervorgeht. „Smartness“ ist Teil unseres Experiments, unseres Habitats. Smarte Städte, Häuser, Stromnetze, Transportsysteme… Alles ist bereits kybernetisch, falls wir darunter die Verbindung lebender Organismen und Maschinen verstehen.

Diese Situation stellt eine Herausforderung für KünstlerInnen dar. Wie sieht man anders in dieser maschinellen Landschaft, kann überhaupt etwas bezeugen? Das Ereignishorizontteleskop ist eine Allegorie für den gegenwärtigen Zustand. Es schafft eine radikale Begegnung mit unserer Unfähigkeit jemals völlig objektiv zu sein sowie mit der Möglichkeit, dass es Dinge zu lernen sowie Formen von Erfahrung gibt, die ausserhalb der Forderungen von Kapital oder Ökonomie liegen. In vieler Hinsicht ist es ein möglicher Höhepunkt in einer Geschichte des Neu- und Andersdenkens von Empfindungen, Wahrnehmungen und wissenschaftlichen Epistemologien. Dies ist jedoch nicht die einzige Möglichkeit in einer Welt von Möglichkeiten. Reaktionäre Politik und extremer Extraktionismus gehen aus einem perversen Gebrauch neuer Mediennetzwerke hervor, nicht um unsere subjektive und verkoppelte Verbundenheit zu erkennen, sondern eher um ältere Formen von Wissen und Macht zu untermauern: jene des Mythos, des Kartesischen Perspektivismus und der „Natur“ als Rohstoff für „menschliche“ Unterfangen. Dies ist die Politik, die Figuren vom Boden trennt, die auf der Stabilität von Objekten besteht und die die Zukunft als immer bereits besiegelt und bekannt versteht. Ich hoffe, dass wir in der Begegnung mit der Unmöglichkeit, uns jemals die Realität des Ereignishorizonts vorstellen zu können, endlich der prekären Realität des Lebens auf Erden begegnen und diese Realität einzuspannen vermögen. Diese Hoffnung hege ich sowohl für die Wissenschaften als auch die Kunst; dass wir unsere Welt anders wahrzunehmen lernen und durch unsere neu gefundene maschinelle Subjektivität anderen endlich mit Fürsorge begegnen.

[1] Oxford English Dictionary, "Event Horizon (N)", (Oxford: Oxford University Press, 2019) [2] Wikipedia, "Event Horizon," Wikipedia, ttps://en.wikipedia.org/wiki/Event_horizon. [3] Dennis Overbye, "Darkness Visible Finally", The New York Times, 10. April 2019 [4] Für eine ausgedehnte Diskussion über die Geschichte von Objektivität und die Beziehung zwischen Objektivität, Wahrnehmung und Technologie siehe: Lorraine Daston and Peter Galison, "Image of Objectivity", Representations 40, no. Fall (1992); Jonathan Crary, Techniques of the Observer : On Vision and Modernity in the Nineteenth Century (Cambridge, Mass.: Cambridge, Mass. : MIT Press, 1990). [5] Dennis Overbye, "Infinite Visions Were Hiding in the First Black Hole Image’s Rings", The New York Times 2020 [6] Ibid. [7] Diese Installation wird von einem Konsortium betrieben, welches vom European Southern Observatory (ESO), mehreren US-amerikanischen Universitäten und einer Reihe japanischer Institutionen geführt wird. 1963 erteilte Chile dem ESO Konzessionen für Observatorien quer durch die Atacama Wüste hindurch; 1990 wurde ALMA offiziell der internationalen Unternehmensgruppe vermacht, die es als extraterritorialen Verwaltungsbereich – oft ausserhalb der lokalen polizeilichen Rechtsprechung liegend – betreibt. ALMA ist auch ein Teil der Geschichte wissenschaftlicher Infrastrukturen mit politischer Bedeutung. Im globalen Süden gelegen, wurde die ESO ursprünglich dazu gegründet, nach dem 2. Weltkrieg durch wissenschaftliche Zusammenarbeit die Europäische Union ins Leben zu rufen. ALMA ist folglich die Produzentin neuer Raumformen und dient indessen auch als Allegorie für die postplanetarischen Vorstellungswelten der Wissenschaften. European Southern Observatory, "ESO & Chile — A Scientific and Cultural Bridge", https://www.eso.org/public/about-eso/eso-and-chile/. [8] NASA, "Cooking up the World’s Driest Desert - Atacama Rover Astrobiology Drilling Studies", no. 20. Juni 2018 (2018), https://www.nasa.gov/image-feature/ames/cooking-up-the-world-s-driest-desert-atacama-rover-astrobiology-drilling-studies [9] David Nye, American Technological Sublime (Cambridge, MA. : MIT Press, 1994); Halpern, Beautiful Data: A History of Vision and Reason since 1945£ [10] Beautiful Data: A History of Vision and Reason since 1945. [11] Yanxia Zhang and Yongheng Zhao, "Astronomy in the Big Data Era", Data Science Journal 14, no. 11 (2015). [12] Janet Vertesi, Seeing Like a Rover: How Robots, Teams and Images Craft Knowledge of Mars (Chicago: University of Chicago Press, 2015). [13] Interviews, welche ich während meiner Besuche des ALMA am 13. März 2019 und des ESO Data Center in Santiago am 20. März 2017 führte, zeigen, dass viele der an Satelliten und den damit verbundenen Informations- und Kommunikationsproblemen arbeiteten, bevor sie ihre Forschung auf das Studium der Sterne anwandten. ALMA hat Pionierarbeit an Exo-Planeten und bei der Suche nach Asteroiden und möglichen anderen nützlichen Objekten auf Erden geleistet. Interviews mit Yoshiharu Asaki, Associate Professor National Astronomical Observatory of Japan (at ALMA) and Chin-Shin Chang, Science Archive Content Manager (ESO Data Center, Santiago). [14] Maria Temming, "How Scientists Took the First Pucture of a Black Hole", Science News, 10. April 2019; Vertesi, Seeing Like a Rover: How Robots, Teams and Images Craft Knowledge of Mars; Lisa Grossman and Emily Conover, "The First Picture of a Black Hole Opens a New Era of Astrophysics", Science News, 10. April 2019. [15] Trevor Pinch David Gooding and Simon Schaffer (ed.), The Uses of Experiment: Studies in the Natural Sciences (New York: Cambridge University Press, 1989). [16] Siehe auch Jennifer Gabrys Arbeit an der Idee des Planeten als programmierbar durch sensorische Infrastrukturen. Jennifer Gabrys, Program Earth: Environmental Sensing Technology and the Making of a Computational Planet (Minneapolis: University of Minnesota Press, 2016).

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