Fabienne Liptay, 2020
„To search for human visual realities, man must, as in all other homo motivation, transcend the åoriginal physical restrictions and inherit worlds of eyes. The very narrow contemporary moving visual reality is exhausted.”
—Stan Brakhage, Metaphors of Vision (1963)
Der Mensch hätte, schreibt Stan Brakhage, Welten von Augen zu bewohnen, um neu sehen zu lernen; er hätte zu spekulieren über das Sehvermögen von Insekten sowie das der Bienen, die den ultravioletten Bereich des Lichts wahrnehmen, oder über das Tapetum der Katzenaugen, die spiegelnde Schicht hinter der Netzhaut, die jeden Lichtfunken in der Dunkelheit reflektiert und intensiviert zum Leuchten bringt.[1] Brakhages Metaphors on Vision (1963), ein Filmmanifest der Avantgarde, ist eine Ode an ein Sehen, das unvoreingenommen ist vom Wissen um die Gesetze der Perspektive und die Regeln der Bildkomposition, unbeherrscht von Weltbildern und Anschauungen, die erst dadurch erzeugt werden, dass sie geschaut werden können – an ein visionäres Sehen, das sich auf die Abenteuer der Wahrnehmung einlässt, auf die schier endlose Vielfalt der Farbabstufungen, das vielleicht sogar für das Spektrum der Wärmewellen empfindlich wäre, wenn es nur alle Ideologie, Ästhetik, Technik vergessen und verwerfen würde. Es war der Anspruch der künstlerischen Avantgarde, das Sehen zu erneuern und die Grenzen der visuellen Wahrnehmung zu erweitern. Der Film wäre, so Brakhage, als Instrument dieser künstlerischen Vision überhaupt erst zu entdecken, jenseits der Kameraoptik, die ein Bild der Welt nach den standardisierten Massgaben eines visuellen Realismus gibt, der in der abendländischen Geschichte der Perspektive und ihrer Kolonisierung der Wahrnehmung gründet.[2] Die Augen des Chamäleons gehören, auch wenn Brakhage sie nicht eigens würdigt, den Metaphern eines solchen erweiterten Sehens an. Nicht nur können sie sich färben, um mit den Artgenossen zu kommunizieren, sondern sich auch unabhängig voneinander bewegen, sodass sie ein weites Umfeld überblicken. Das Chamäleon verfügt, anders als bei Wirbeltieren üblich, über eine Augenlinse mit negativer Brechkraft, die das Licht nicht bündelt, sondern streut, sodass das retinale Bild ungewöhnlich gross ist und ein genaues Scharfstellen erlaubt. Wenn ein Chamäleon seine Beute anvisiert, erlauben seine Augen durch Akkommodation ein präzises Messen der Distanz, das sich durch besonders hohe Geschwindigkeit und Genauigkeit auszeichnet.
Was sehen wir durch die „Augen des Chamäleons“, durch die beiden sich unabhängig voneinander bewegenden Kameraroboter auf den Dächern der neuen Siedlungsbauten am Letzigraben, deren Bilder auf dem doppelseitigen LED-Bildschirm im unten gelegenen Park wiedergegeben werden? Ihr Blick ist in den Himmel gerichtet, auf den Flug der Vögel, den sie nicht fotografisch, sondern thermografisch registrieren, durch die von den Körpern ausgestrahlte Wärme im infraroten Wellenlängenbereich. Erreicht eine entsprechende Wärmestrahlung eine der beiden Kameras, folgt sie der Flugbewegung der Vögel, deren Körpertemperatur sie in ein Spiel der Farben übersetzt. Aber auch andere Himmels- und Flugkörper wie Fledermäuse, Flugzeuge oder Drohnen fallen in ihren Blick – vor allem die Wolken, die in einem scheinbar endlosen suggestiven Bilderstrom wie Gedanken oder Träume vorüberziehen. Am Firmament, das farbig erscheint, werden die Vögel als helle Punkte zum Leuchten gebracht. Zehn Jahre, eine kurze Lebensspanne lang, soll dieser Film dauern. Der LED-Screen, auf dem er sich in Echtzeit abspielt, steht im Heiligfeld-Park, mitten im „Grünen“, sofern dem menschlichen Auge die Natur aufgrund der Wellenlänge der elektromagnetischen Strahlung als grün erscheint, während die Wärmebildkameras auf dem LED-Screen ein „Bild der Natur“ geben, die diese in einem Bereich wahrnehmbar machen, der jenseits des für uns sichtbaren Lichtspektrums liegt. Fast scheint es so, als liesse die Natur durch das empfindliche Sensorium der Thermografie ein Bild ihrer selbst vor unseren Augen entstehen, als sei der „pencil of nature“, von dem William Henry Fox Talbot angesichts der Erfindung der Fotografie sprach,[3] dazu befreit, nun auch zu zeichnen, was jenseits des für uns Sichtbaren liegt, damit wir spekulieren können, wie uns die Welt durch die „Augen des Chamäleons“ erschiene. Malerische Effekte stellen sich ein, inmitten des digitalen Screens, dessen grobes Raster entfernt noch an die Autonomiegesten der modernen Malerei erinnert, die sich, wie Rosalind Krauss bemerkte, ein „Gitternetz“ zum Schutz gegen alle Einflüsse von aussen errichtet hatte, damit „kein Schreien der Vögel am offenen Himmel“ die Stille der Kunst stören und das Versprechen ihrer Freiheit und Reinheit durchkreuzen möge.[4]
„Comme un caméléon l’esprit humain se camoufle en camouflant l’univers.”
—Blaise Cendrars, L’ABC du cinéma (1926)
Zu den Gründen für die Verzögerung, die das Kunst-und-Bau-Projekt im Zuge der Corona-Pandemie erfahren hat, gehört der Umstand, dass der Lieferant der benötigten Technologie den Auftrag erhielt, Grossbetriebe mit Wärmebildkameras zur Fieberdetektion bei ihren Mitarbeitenden auszustatten. Weder machen die Wärmebildkameras dabei eine Infektion mit dem Virus sichtbar, noch messen sie im diagnostischen Sinne Fieber. Was sie im Wärmebild zur Anschauung bringen, sind Körpertemperaturen, die an der Oberfläche gemessen werden, durch thermografische Verfahren der Darstellung von Infrarotstrahlung in unterschiedlichen Intensitäten. Als Erkennungsverfahren ist die Thermografie dabei nicht weniger biometrisch als etwa ein fotografisches Passbild oder ein durch algorithmische Gesichtserkennung gelesenes Porträt,[5] wenngleich sie nicht bei den besonderen Personenmerkmalen, sondern bei der allgemeinen Körperlichkeit ansetzt. Alle Körper, lebende wie unbelebte, mit einer Temperatur oberhalb des absoluten Nullpunkts senden Wärmestrahlung in unterschiedlicher Wellenlänge aus. Den biologisch relevanten Temperaturen entsprechen dabei Wellenlängen in einem atmosphärischen Fenster von etwa 8 bis 14 Mikrometern im langwelligen Infrarotbereich (ca. -20 bis 120°C).[6] Diese für das menschliche Auge unsichtbare Infrarotstrahlung wird von der Wärmebildkamera in elektrische Signale umgewandelt, die ein Bild erzeugen, das die verschiedenen Wellenlängen jenseits des Lichtspektrums in eine farbkodierte Darstellung übersetzt. Da diese Farben nicht der natürlichen Wahrnehmung des Menschen entsprechen, werden sie Falschfarben oder Fehlfarben genannt, die uns sehen lassen, was sich unserem Auge so nicht zeigt. Die Wärmebildkamera ist, anders gesagt, farbenblind, sie erfasst die Weltbewohner nicht anhand der Farbe ihrer Haut, Augen, Haare, ihres Fells oder Gefieders, sondern anhand der Oberflächentemperatur ihrer Körper. Dem thermografischen Bild nachempfunden sind nicht zuletzt die vielen Kartogramme, die die globale Ausbreitung des Coronavirus durch farbliche Markierung der Infektionsdichte visualisieren, die Welt somit in eine „heat map“ mit sichtbaren Brandherden verwandeln.[7]
Gegenüber anderen Messverfahren zeichnet sich die Thermografie dadurch aus, dass sie nichtinvasiv und berührungslos ist. Sie macht Körper aus grosser Entfernung sichtbar, registriert ihre Wärmestrahlung in der Dunkelheit sowie unter schlechten Sichtbedingungen, in Nebel, Rauch oder Schnee. Die Thermografie dient der Überwachung, Ermittlung, Diagnostik, Schadenserkennung, Qualitätssicherung, Instandhaltung, Inspektion und Prozessoptimierung. Sie wird vom Militär, Grenzschutz und Zoll, von der Polizei und Feuerwehr gebraucht, kommt in der Veterinär- und Humanmedizin, der Klimaforschung, der Geologie, der Baubranche, der Automobilindustrie, der Luft- und Raumfahrt und der industriellen Werkstückprüfung zur Anwendung. Mit Wärmebildkameras können Baumängel, Leckagen, Materialschäden, Brandherde, Sportverletzungen und Infektionen sichtbar gemacht werden, können verschüttete, vermisste, flüchtige Personen aufgespürt, Grenzen überwacht, militärische Operationen durchgeführt und Pandemien eingedämmt werden.[8] Auch in der Vogelforschung wird die Thermografie gebraucht, um Wärmeregulation, Energieaufwendung, Verhalten, Gesundheit und Population der Tiere zu überwachen sowie in jüngerer Zeit auch den vorwiegend nächtlichen Vogelzug in grossen Höhen zu beobachten. Gegenüber der Methode der Mondbeobachtung mit einem Fernrohr, bei der die ziehenden Vögel als Silhouetten vor der leuchtenden Mondscheibe sichtbar werden und somit gezählt werden können, hat die Thermografie den Vorteil, nicht auf wolkenlose Vollmondnächte angewiesen zu sein, um Messungen der Zugintensität zu erlauben.[9]
„That’s important from the point of view of people, but let’s talk about it as being important from the point of view of birds.”
—Margaret Atwood in einem Interview in der New York Times (2019)
Im thermografischen Bild erkennen wir, was uns als Menschen mit den Tieren verbindet, die Wärme der Körper als geteilte Lebendigkeit. Diese Körper sind verletzlich, sie können geschützt und gefährdet, gerettet und getötet werden. Gemäss der altgriechischen Unterscheidung zwischen zoḗ und bios, auf die sich Giorgio Agamben beruft,[10] vermisst die Thermografie das Leben, das allen Lebewesen gemeinsam ist (zoḗ), im Gegensatz zum Leben, das bestimmten Lebewesen eigen ist (bios) und diese für die politische Gemeinschaft qualifiziert. Dabei liegt der Argumentation die Unterscheidung zwischen Mensch und Tier implizit zugrunde, durch die ein Leben in der politischen Gemeinschaft überhaupt erst von jenem kreatürlichen Leben unterschieden werden kann, das alle Lebewesen miteinander teilen. Nun besteht die Leistung der modernen Politik darin, wie Agamben argumentiert, diese Unterscheidung aufzuheben, indem sie das biologische Leben gerade dadurch regiert, dass sie es aus der politischen Ordnung ausschliesst, dass sie einen ständigen Ausnahmezustand errichtet, in dem das „nackte Leben“ dem Schutz durch das Gesetz entzogen und aller Rechte entkleidet ist.[11] In der politischen Philosophie wurde die Frage nach dem rechtlosen oder entrechteten Leben auch aus der Perspektive der Tiere gestellt. So formulieren etwa Sue Donaldson und Will Kymlicka das Desiderat einer politischen Theorie der Tierrechte, die den Tieren einen Platz in der politischen Ordnung einräumt und ihnen Souveränität und Selbstbestimmungsrechte hinsichtlich der von ihnen bewohnten Territorien gewährt.[12] Dazu würde ein Ortsrecht für Wildtiere, das ihren Lebensraum vor menschlichen Eingriffen und Zerstörungen schützt, ebenso gehören wie ein Mitspracherecht für domestizierte Tiere, das diese als vollwertige Mitglieder der Gemeinschaft anerkennt.
Der Bildraum, den die Wärmebildkameras in Chameleon Eyes entwerfen, ist gleichsam eine Zone, in der diese Debatten aufgerufen und miteinander in ein Streitgespräch gebracht werden. Ist darin alles Leben auf ein bloss körperliches, biologisches reduziert und dem Blick statistischer Kontrolle und Überwachung unterworfen? Wird darin den Tieren ein eigener Platz gestiftet, an dem ihnen Tierrechte innerhalb der staatlichen Rechtsordnung einzuräumen wären, nicht zuletzt das Recht auf Datenschutz? Oder eröffnet die Kunst unserem Blick gleichsam Fluchtlinien, die aus diesen optischen Systemen herausführen, in die Sphären der Spekulation über das, was jenseits der Reichweite unserer trainierten Sinne liegt?
Bereits in früheren Arbeiten, etwa in den Ausstellungsinstallationen Hunter in the Void (2016) im Kunsthaus Glarus oder Nocturnal Appearance of Various Species of Furry Animals from the Neighborhood (2016) in der Galerie RaebervonStenglin, hat sich Thomas Julier mit den urbanen Ökosystemen und Lebensräumen von Tieren befasst und deren vor allem nächtliche Aktivität über Infrarotkameras mit Futterködern in den Ausstellungsraum übertragen. Die Versuchsanordnung ist jeweils ortsspezifisch eingebettet in eine Szenografie, aus der sich unterschiedliche Vorstellungen, vielleicht sogar Narrative von der Begegnung zwischen Menschen und Tieren in den von ihnen geteilten Lebensräumen entwickeln können. Das Ausstellungsdisplay figuriert dabei gleichsam als ein intelligentes verteiltes Sensorium, das diesen Lebensraum jenseits dessen, was sichtbar gegeben ist, in den Dimensionen seiner Virtualität und Potentialität auslotet. Es ist in diesem Sinne denn auch weniger eine apparative Anordnung, die einer künstlerischen, wissenschaftlichen oder sonstigen Form des digitalen Tier-Monitoring nützlich wäre, als eine Bühne oder Szene eigentlich unmöglicher Blicke, eine „Welt der Augen“, in der sich Ungesehenes ereignen kann. Chameleon Eyes führt diese Modellierung von Wahrnehmungsräumen eines erweiterten Sehens fort. Die Vision der Avantgarde, das Sehen von den ideologischen und technologischen Bedingungen von Sichtbarkeit zu befreien, wird dabei schon insofern nicht eingelöst, als die Arbeit es unweigerlich auf die Mächte verweist, die im Bildraum regieren.[13]
Inmitten der öffentlichen Grünanlage der Wohnsiedlung Heiligfeld, die in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts errichtet wurde, nun drei Ersatzneubauten erhielt und entstanden ist im gemeinsamen Auftrag der Siedlungsgenossenschaft Eigengrund und der Stiftung Gemeinnütziger Wohnungsbau Letzigraben, ist das Kunstwerk in enger Weise auf den sozialen Auftrag bezogen, der dem Ensemble zugrunde liegt. Mit seinen unterschiedlichen Haustypen sollte dieses der Vielfalt menschlicher Bedürfnisse und Lebensentwürfe gerecht werden, damit Vorstellungen einer pluralistischen und solidarischen Gesellschaft der Nachkriegsmoderne entsprechen.[14] Das Kunstwerk erweitert den geschaffenen Wohnraum insofern, als dieser nicht nur als ein ausschliesslich dem Menschen zugeeigneter gedacht wird, sondern nichtmenschliches Leben, einschliesslich des „artificial life“, in den Entwurf eines gemeinsamen Habitats einbezieht. Dabei richtet es den Blick, über das Zusammenspiel von Architektur und Parkanlage hinaus, auf eine Lebensgemeinschaft der interspezifischen und intersektionalen Beziehungen und Abhängigkeiten. In den Wärmebildern können wir die geteilte Lebendigkeit der Körper dabei ebenso erblicken, wie wir uns die sozioökologischen Bedingungen vergegenwärtigen können, die diese Körper in ungleicher Weise für Einflüsse aus der Umwelt verletzlich machen.[15]
Nicht zuletzt ist dieses Habitat auch ein Datenraum, der die gebaute und gestaltete Umwelt um die virtuelle Sphäre erweitert. In der Eroberung dieses weltumspannenden Netzes erweist sich die Ornithologie als Avantgarde, denkt man etwa an das Projekt Icarus (International Cooperation for Animal Research Using Space) unter Beteiligung des Max-Planck-Instituts, bei dem Vögel und andere kleine Tiere wie Fledermäuse und Insekten mit Minisendern ausgestattet werden, um sie auf ihren Wanderrouten zu verfolgen und ihre Bewegungsmuster telemetrisch zu vermessen, und zwar aus dem Weltraum über eine eigens zu ihrer Erforschung an der Internationalen Raumstation ISS angebrachten Antenne.[16] Über Ortsinformationen hinaus lesen die Sender von den Tieren auch physiologische Daten wie Körpertemperatur, Herzfrequenz oder Sauerstoffgehalt im Blut ab, aus denen sich Aussagen über das Verhalten und Stressniveau der Tiere ableiten lassen. Die derart gewonnenen Daten sollen dem Tierwohl, dem Artenschutz und der Entwicklung ökologischer Ansätze ebenso dienlich sein wie der Gewinnung von Erkenntnissen über die Ausbreitung der aviären Influenza und anderen Virusinfektionen, der Frühwarnung vor Katastrophenereignissen wie Erd- und Seebeben, Vulkanausbrüchen und Wirbelstürmen oder schlicht der Vorhersage des Wetters. Angesichts eines solchen „Internets der Tiere“ spricht Alexander Pschera von einer Erfindung der Natur aus dem Geist der digitalen Technologie, von einem neuen „Dialog zwischen Mensch und Tier“ gar, in dem nunmehr beide twittern.[17] Mitunter kommt es zu einem Tausch der Perspektiven, bei dem die Menschen den Blick der Tiere auf die Umwelt einnehmen, die Vogelgrippe etwa aus der Warte der Vögel erforschen.[18] Simulationen möglicher Krisen- oder Katastrophenszenarien, in denen Tiere eine Rolle spielen, erweitern gewöhnliche Formen der Naturbeobachtung um die Wahrnehmung der Tiere oder was Menschen als diese imaginieren.
„As spies, racers, messengers, urban neighbors, iridescent sexual exhibitionists, avian parents, gender assistants for people, scientific subjects and objects, art-engineering environmental reporters, search-and-rescue workers at sea, imperialist invaders, discriminators of painting styles, native species, pets, and more, around the earth pigeons and their partners of many kinds, including people, make history. (…) We all are responsible to and for shaping conditions for multispecies flourishing in the face of terrible histories, and sometimes joyful histories too, but we are not all response-able in the same ways. The differences matter – in ecologies, economies, species, lives.”
—Donna Haraway, Staying with the Trouble (2016)
Einem wissenschaftlichen Interesse der Vermessung des Vogelflugs in Echtzeit vermag das Kunst-und-Bau-Projekt von Thomas Julier nicht zu entsprechen, zumal schon die Daten, die es generiert und speichert, keinen Aufschluss über Entfernungen oder Flughöhen geben, die für ornithologische Studien benötigt würden. Darüber hinaus sind die Latenzen, das heisst die zeitlichen Verzögerungen zwischen dem Steuerimpuls und der Kamerabewegung so gross, dass eine Prädiktion, eine Bewegungsvorhersage des Vogelflugs nur unter bestimmten Voraussetzungen möglich ist, die robotischen Kameras also die Vögel, die die Impulse für ihr „pan & tilt“ geben, wieder aus dem Blick verlieren. Die Vögel entziehen sich damit einem kontinuierlichen Tracking, setzen als Impulsgeber ein rhythmisches Spiel mit den Möglichkeiten und Grenzen der Berechenbarkeit zwischen fixierenden und flüchtigen Blicken in Gang. Und immer wieder Wolken, die als amorphe Farbgebilde vorüberziehen. Gaston Bachelard nannte die Wolke das imaginative Material für diejenigen, die zu faul sind, ihr eigenes zu formen.[19] In den Wolken können sie die Bildung von Gestalten erblicken, die sich niemals festhalten lassen, sich noch dem Werk der nubigenen Vorstellungskraft entziehen. Für den amerikanischen Fotografen Alfred Stieglitz waren Wolken gar eine Möglichkeit, den fotografischen Blick vom Formensehen gänzlich zu befreien. Im Jahr 1922 begann er, über ein Jahrzehnt hinweg, immer wieder Wolken zu fotografieren, in fotografischen Studien, die unter anderem dem Anspruch folgten, die zentralperspektivische Konstruktion der Apparatur zu unterwandern, und daher als frühe Beispiele abstrakter Fotografie gewürdigt werden. Sie setzen einen Blick ins Bild, der keine Bezugspunkte hat, die eine optische Bemessung von Grössenverhältnissen oder Distanzen erlauben würden, der scheinbar bodenlos – ob nach oben oder unten vermag man nicht zu sagen – in den Himmel stürzt. Stieglitz nannte seine Serie, bestehend aus ungefähr 220 Fotografien, Equivalents – Äquivalente, die so ähnlich wie Fotografien aussehen, dabei aber vielmehr eine musikalische Sequenz, „songs of the sky“, sein sollten.[20] Sofern der Himmel in den Fotografien von Stieglitz, wie Rosalind Krauss bemerkt, „essentially not composed“[21] ist, perpetuieren sie die Kategorien eines Sehens, das in Regeln der perspektivischen Konstruktion und Kontrolle des Bildes gründet. Sie verweisen damit auf andere Potentiale der Fotografie, mithin auf die nicht verwirklichten Möglichkeiten in der Geschichte der europäischen Kunst, die, ausgehend von der Sehtheorie des arabischen Optikers Alhazen, die Perspektive erfand, während die islamische Kunst aus ihr geometrische Abstraktionen generierte, die keinem menschlichen Blick als Zentrum der Weltwahrnehmung entsprachen.[22]
Dario Gamboni galten die Wolkenfotografien von Stieglitz wie auch andere Wolkenbilder der modernen Kunst, etwa Charles Girons The Clouds (1901), Lyonel Feiningers Vogelwolke (1926) oder Vik Muniz‘ The Snail (1993), als „potentielle Bilder“ – Bilder, die Ansprüche auf Autorität und Macht über das Dargestellte, über seine Wahrnehmung und Wirkung zurückweisen in einen Raum des Möglichen, des Unbestimmten und Unsicheren.[23] Sie sind dabei noch dort, wo sie dem demokratischen Ansinnen folgen, den Betrachter gleichberechtigt an der Konstruktion der Bilder teilhaben zu lassen, nicht frei von den Ambivalenzen und Widersprüchen, die dem Projekt des Blicks in den Himmel innewohnen. Die Unbestimmtheit, die ihnen eigen ist, ist nicht zuletzt ein Effekt des Unvermögens, die Sphären des Ästhetischen und des Politischen zu separieren, die freie Kunst herauszuhalten aus dem militärisch-industriellen Komplex, mit dem sie ihre Bildtechnologien teilt. Der Blick in den Himmel ist eine Beschäftigung der Fantast*innen und Träumer*innen, Mystiker*innen und Poet*innen, Künstler*innen und Visionär*innen. Er ist aber auch eine Beschäftigung der Meteorolog*innen oder der Ornitholog*innen, die die Atmosphäre und Avifauna verdaten, oder der zivilen und militärischen Luftraumüberwachung, die diese meteorologischen und ornithologischen Daten für andere Zwecke wie die der staatlichen Sicherheitspolitik gebraucht.[24]
Wo sich das Szenario des Zusammenlebens der menschlichen und nichtmenschlichen Spezies in den Wärmebildern sowohl der bildlichen Dokumentation von Wirklichkeit als auch der berechneten Vorhersage, der Prognose und Prädiktion von Wahrscheinlichkeit entzieht, bleibt es immerhin: möglich. Wir hätten angesichts dieses Szenarios weder die Befreiung der Kunst hin zu einem nichtoptischen Sehen zu bewundern, noch ihre Preisgabe an das Regime technologisch hochgerüsteter Überwachung zu bedauern. Vielmehr hätten wir, wie Donna Haraway in ihrer Kritik des Anthropozäns vorschlägt,[25] unruhig zu bleiben über das, was wir durch die „Augen des Chamäleons“ erblicken.
[1] Stan Brakhage, “Metaphors on Vision”, in: Metaphors on Vision (1963), hg. von P. Adams Sitney, New York: Anthology Film Archives und Light Industry, 2017, o. S. [2] Ebd. [3] William Henry Fox Talbot, The Pencil of Nature (1844-1846), München: Hirmer, 2011. [4] Rosalind E. Krauss, “Die Originalität der Avantgarde” (1981), in: Die Originalität der Avantgarde und andere Mythen der Moderne, hg. von Herta Wolf, Verlag der Kunst, 2000, S. 197–219, hier S. 206. [5] Siehe hierzu Roland Meyer, Operative Porträts. Eine Bildgeschichte der Identifizierbarkeit von Lavater bis Facebook, Göttingen: Konstanz University Press, 2019. [6] Dies entspricht dem von den beiden Kameras erfassten Wellenlängenbereich. Vgl. hierzu auch Dominic J. McCafferty, “Applications of Thermal Imaging in Avian Science”, in: IBIS. The International Journal of Avian Science 155 (2013), S. 4–15, hier S. 5. [7] Zum Beispiel das Dashboard des Center for Systems Science and Engineering an der Johns Hopkins University, https://coronavirus.jhu.edu/map.html. [8] Die Thermografie ist damit den Technologien staatlicher Sichtbarkeit zuzurechnen, wie sie Joseph Pugliese mit Blick auf die biopolitische Regierung von illegalen Migranten, Geflüchteten und Asylsuchenden beschrieben hat. Joseph Pugliese, “Technologies of Extraterritorialisation, Statist Visuality and Irregular Migrants and Refugees”, in: Griffith Law Review 22/3 (2013), S. 571–597. [9] Siehe zur Mondbeobachtung George H. Lowery, Jr., “A Quantitative Study of the Nocturnal Migration of Birds”, in: University of Kansas Publications, Museum of Natural History 3/2 (1951), S. 361–472; sowie zur Erweiterung um Methoden der Infrarot- und Radarbeobachtung Felix Liechti, Bruno Bruderer, Heidi Paproth, “Quantification of Noctural Bird Migration by Moonwatching. Comparison with Radar and Infrared Observations”, in: Journal of Field Ornithology 66/4 (Herbst 1995), S. 457–468. [10] Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben (1995), Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002, S. 11. [11] Ebd., S. 18 f. [12] Sue Donaldson, Will Kymlicka, Zoopolis. Eine politische Theorie der Tierrechte, Berlin: Suhrkamp, 2013. Siehe zur Tierrechtsdebatte etwa auch Robert Garner, A Theory of Justice for Animals. Animal Rights in a Nonideal World, Oxford und New York: Oxford University Press, 2013; Eva Meijer, Was Tiere wirklich wollen. Eine Streitschrift über politische Tiere und tierische Politik, München: btb Verlag, 2019; Bernd Ladwig, Politische Philosophie der Tierrechte, Berlin: Suhrkamp, 2020. [13] Gemäss der von Tom Holert im Anschluss an Walter Benjamin gefundenen Formel des „Regierens im Bildraum“ in seiner gleichnamigen Aufsatzsammlung: Regieren im Bildraum, Berlin: b_books, 2008. [14] Siehe hierzu Ruedi Weidmann, “Handlungsspielräume bei der Realisierung einer neuen Bauform. Die Letzigraben-Hochhäuser von A. H. Steiner 1950-1952”, in: Albert Heinrich Steiner. Architekt – Städtebauer – Lehrer, hg. von Werner Oechslin, Zürich: gta Verlag, 2001, S. 72-107. [15] J. T. Demos, “Ecology-as-Intrasectionality”, in: Panorama. Journal of the Association of Historians of American Art 5/1 (Frühjahr 2019), https://doi.org/10.24926/24716839.1699. [16] Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V., Icarus. Erdbeobachtung mit Tieren, 2020, https://www.icarus.mpg.de/de. [17] Alexander Pschera, Das Internet der Tiere. Der neue Dialog zwischen Mensch und Natur, Berlin: Matthes & Seitz, 2014. [18] Frédéric Keck spricht von einem solchen Tausch der Perspektiven im Zusammenhang mit der SARS-Pandemie, als sich Forscher auf einen möglichen Ausbruch der „Vogelgrippe“ dadurch vorbereiteten, dass sie sich in Simulationen von Krisenszenarien mit der Wahrnehmung der Vögel identifizierten. Frédéric Keck, Avian Reservoirs. Virus Hunters & Birdwatchers in Chinese Sentinel Posts. Durham: Duke University Press, 2020, S. 109: „(…) humans exchange their perspectives with animals in an imagined future where their relations are reversed.” [19] Gaston Bachelard, L’air et les songes. Essai sur l’imagination du mouvement, Paris: Librairie José Corti, 1943, S. 239 f. Siehe hierzu auch Rainer Guldin, Die Sprache des Himmels. Eine Geschichte der Wolken, Berlin: Kadmos, 2006; Johannes Stückelberger, Wolkenbilder. Deutungen des Himmels in der Moderne, München: Fink, 2010; Tobias Natter, Franz Smola (Hg.), Wolken. Welt des Flüchtigen, Ausst.-Kat. Leopold Museum Wien, Berlin: Hatje Cantz, 2013. [20] Alfred Stieglitz, “Wie ich dazu kam, Wolken zu fotografieren” (1923), in: Wolkenbilder. Die Erfindung des Himmels, hg. von Stephan Kunz, Johannes Stückelberger und Beat Wismer, Ausst.-Kat. Aargauer Kunsthaus, Aarau, München: Hirmer, 2005, S. 85-89. [21] Rosalind Krauss, “Stieglitz/Equivalents”, in: October 11 (Winter 1979), S. 129-140, hier S. 134. [22] Siehe hierzu Hans Belting, Florenz und Bagdad. Eine westöstliche Geschichte des Blicks, München: C. H. Beck, 2008, S. 12. Zur Diskussion der Thermofotografie im Kontext der Geschichte der Perspektive siehe Ulrich Meurer, “Invading/Inviting. From Surveillance to Byzantium”, in: ZKM. Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 11/1 (2020), S. 157-173. [23] Dario Gamboni, “Potential Images. Ambiguity and Indeterminacy in Modern Art”, London: Reaktion Books, 2002, S. 157, 215, 240, 241 ff. [24] Vgl. etwa Lars Willumeit, “Seeing the State vs. Seeing Like a State. How to Secure a Country as an Anti-Instructional Visual Research Project”, in: Salvatore Vitale. How to Secure a Country – From Border Policing via Weather Forecast to Social Engineering. A Visual Study of 21st-Century Statehood, hg. von Salvatore Vitale und Lars Willumeit, Zürich: Lars Müller Publishers, 2019, S. 7-22. [25] Donna J. Haraway, Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän, Frankfurt am Main und New York: Campus Verlag, 2018.